Mich hat in den vergangenen Monaten Vieles sehr bewegt. Zunächst einmal das Bestaunen und Freuen an dem Heranwachsen meiner wenige Monate jungen Tochter, an ihrem bezaubernden An-Lächeln und wie es langsam zu einem lauten An-Lachen wird. Das gemeinsam mit engen Lebensgefährt:innen erleben zu dürfen, bewegt mich sehr. Als frisch gebackener, gut gehendem und verantwortungstragenem Papa beschäftigt mich zugleich, dass mich die sich seit Jahrzehnten bereits angekündigten Vielfachkrisen auf eine neue, eindringliche Weise bewegen. Klar, seit einigen Jahren spitzt sich Vieles zu und kommt zunehmend auch durch unsere wohlbehüteten Haustüren. Es wird damit für uns alle Teil unserer unmittelbaren Erfahrungs- und Gefühlswelt. Und doch, als Papa bewegt es mich persönlich nochmal anders als früher.

Mit einem so wundervollen, kleinen Wesen in meinem Leben beginnt sich meine Beziehung zur Gegenwart und Zukunft grundlegend zu verändern. Ich stelle mir die Zeit rund um das Jahr 2049 vor: Wie wird meine Tochter leben? Wo werde ich sein? Welche Beziehung werde ich zu meiner Tochter haben?

Und da kommen in mir auf einmal Fragen hoch, die mir meine Tochter vermutlich früher oder später stellen wird:
Was wusstest du damals? Was fühltest du? Und… was hast du getan?

Ich stelle mir vor, wie sie da steht, mich direkt anschauend. Und wie ich da stehe. Werde ich ihrem Blick ausweichen? Oder ihr direkt und offen in ihre fragenden Augen schauen können? Wie werde ich mich dabei fühlen?

Während ich mir diese Situation mit meiner Tochter vorstelle, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Muss schlucken. Meine Knie werden etwas weich. Ich schwanke ein wenig…
Dann aber merke ich auf einmal: Die Antwort auf diese Fragen ist noch offen und wird lange offen bleiben, genauso wie mich diese konkrete Situation und Fragen auf meinem weiteren Lebensweg weiterhin begleiten werden. Das flaue Gefühl im Magen schwindet wieder und ich spüre auf einmal ganz viel Energie und Ansporn. Denn auch schon heute, hier und jetzt, sind diese Fragen da und stoßen weitere Fragen in mir an: Inwieweit geht meine Ver-Antwortung in diesen Zeiten denn nun wirklich? Was kann ich tun? Was sollte ich weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr tun? Und wie kann ich dabei meiner Ver-Antwortung gerecht werden, ohne mich permanent zu überfordern und mein Leben weiterhin als ein Gelingendes erleben?

Das Sinnpiraten eröffnete mir hier neue Perspektiven… 

Ver-Antwortung und das Sinnpiraten begegnen sich für mich an der Stelle, wo versucht wird an neuen Vorstellungen von Normalität mitzuwirken und diese soweit uns möglich auch selber zu praktizieren. Sinnpirat:innen hinterfragen und verändern damit historisch gewachsenene Vorstellungen von Normalität, wie schon die Piratinnen und Piraten im 18. Jahrhundert (mehr dazu in diesem Blog-Beitrag) – Vorstellungen, die in anderen Zeiten mit neuen Herausforderungen vielleicht nicht mehr „normal“, „legitim“, sondern sogar zu Hindernissen werden können.

Ein wichtiger Unterschied zwischen der damaligen Piraterie und der heutigen Sinnpiraterie ist für mich jedoch, nicht einfach neue Normalitäten auf einem isolierten Schiff als kleine Parallelgesellschaft aufzubauen und mit Gewalt zu beschützen, sondern direkt zu versuchen sie gewaltfrei in die Gesellschaft selbst hineinzutragen. So frage ich mich als Sinnpirat zunächst offen, reflektierend, selbstkritisch: Was von dem, was wir heute tun, ist legal und auch weiterhin legitim? Was ist zwar legal, aber eigentlich nicht mehr legitim und sollten wir daher unbedingt anders machen? Und was ist heute nicht legal, aber durchaus legitim?

Ist so etwas historisch gewachsenes Legales, wie Kranken- und Sozialversicherung oder rechtsstaatliche Demokratie auch heute noch legitim? Definitiv! Sollten wir es nicht nur beibehalten und beschützen, sondern sogar verbessern und ausweiten? Definitiv!

 

…Sollten wir der „Normalität“ des immer höher, schneller, weiter oder unseres alltäglichen Getrennt-Seins von „Natur“ auch weiterhin verfolgen – als Gesellschaft, Organisation wie auch als Mensch? Zwar legal, aber für mich in diesen Zeiten nicht mehr wirklich legitim und ist ohnehin noch nie förderlich für ein gelingendes Leben gewesen. Unter anderem ein zuhörendes, ernstmeinendes Öffnen und Lernen von asiatischen Lebensphilosophien oder auch Erfahrungen von indigenen Naturvölkern wären hier für alternative Wege eine wichtige Inspirationsquelle, auch wenn wir letztendlich selber schauen müssen, was wir davon wie und wo in unsere Kultur übersetzen wollen und vor allem überhaupt können. Eine Eins-zu-Eins-Übersetzung ist sicherlich nicht möglich, geschweige denn sinnvoll oder gar wünschenswert.

… Sollten wir der „Normalität“ des sich Zurücklehnens in das eigene „normale“ Leben weiter verfolgen? Durchaus legal und so sollte es aus meiner Sicht auch bleiben. Nur frage ich mich in diesen Zeiten: Wäre es nicht so wichtig, legitim und für das eigene Leben sogar unheimlich bereichernd, soweit uns selber möglich, uns in politische Diskurse, Bewegungen und neue „normale“ Alltagspraktiken einzubringen, mitzugestalten, mitzuprägen – gewaltfrei gegen das zerstörerische „Normal“ von Teilen des Bestehenden und für das lebensbejahende „Normal“ des Neuen?

…Sollten wir den medial viel diskutierten, politisch konfrontativen, zivilen Ungehorsam unterstützen oder uns gar daran beteiligen? Dieser ist sicherlich nicht legal. Nur ist er, sofern er als gewaltfreier Widerstand stattfindet, nicht doch legitim und die dadurch entstehenden Konflikte nicht dringend erforderlich? – gerade inmitten gesellschaftlicher Trägheit, schwer fassbarer entgegengesetzter Lobbyinteressen und der zunehmend aufdrängenden Notwendigkeit neuer zeitgemäßer politischer Rahmenbedingungen für das 21. Jahrhundert? Im Falle beispielsweise der mehrheitlich gewaltfreien Klimaproteste rund um das Dorf Lützerath, das für Braunkohle-Abbau abgebaggert werden soll, für mich definitiv legitim. Über das gewaltfreie, Rettungsgasse sichernde Festkleben auf Straßen und Autobahnen lässt sich wunderbar streiten – aber vielleicht nicht doch auch legitim? Was meinst Du?

Solche Fragen finde ich unheimlich spannend. Denn sie stehen unserem Drang nach Konformität diametral entgegen und sind in aller Regel von Hemmungen begleitet. Dieser starke Konformitätsdrang zeigt sich schon an den Hemmungen der Allermeisten von uns bei so etwas niedrigschwellig Legalem, wie in einer belebten Fußgängerzone alleine auf eine Kiste zu steigen und anzufangen laut zu singen.

Aber welche Fragen kommen Dir mit Blick auf Legales und Legitimes in der heutigen Zeit auf? Welche Fragen lösen in Dir starke Gefühle aus? Was antwortest Du auf sie? Was antworten Wir auf sie… im Herzen, im Kopf, mit der Hand? 

Ohne das widerkehrende Stellen solcher Fragen wären wir heute nicht da, wo wir sind: Sklaverei erscheint heute einer gesellschaftlichen Mehrheit menschenverachtend, ebenso wie die gewaltsame Unterdrückung von Frauen, People of Color, Arbeitnehmenden und vielen anderen strukturell Unterdrückten und Diskriminierten. Sicherlich gibt es auch weiterhin Unterdrückung, viele Rückschläge und die Notwendigkeit gleichberechtigte Teilhabe aller weiter voranzutreiben. Jedoch war all das und vieles andere aus heutiger Sicht Absurde früher legal, daher auch „normal“, aber auch damals schon eigentlich nicht legitim. Neu geschaffene „Normalitäten“, die keine Selbstverständlichkeit sind, jederzeit wieder untergehen können und daher gewaltfrei beschützt werden müssen – von uns allen und gerade heute!

Die Sinnpiraterie bringt einen also früher oder später zu der Frage, zu welcher „Normalität“ möchte ich selber gemeinsam mit anderen durch das eigene Tun beitragen? Oder sinnpiratisch ausgedrückt: An welchen Stellen initiiere oder unterstütze ich gemeinsam mit anderen eine kleinere oder größere Meuterei?

Das ist sicherlich nicht immer leicht, manchmal ganz schön überfordernd und beängstigend und zugleich spielt hier auch ganz viel lebensbejahende, sinnpiratische Musik mit. Genau das ist für mich das Tolle an den Sinnpirat:innen. Durch das Schlüpfen in die sinnpiratischen Rollen kann ganz viel passieren: Jede Menge neue Ideen, Bilder und Assoziationen kommen auf, eine spielerische und draufgängerische Risikofreude macht sich in einem breit. Kurzum: Die Sinnpiraterie bringt Spaß und kindliche Leichtigkeit in das eigene Tun, auch wenn die Herausforderungen und Themen noch so ernst sein mögen. Wichtig ist das für sich Passende zu finden, vor allem dass, wofür man selber brennt und nicht „alles“ zu versuchen. Denn das Sinnpiraten kann so vieles bedeuten, wie ZUM BEISPIEL:

  • eigene Vorrechte als deutsche Staatsbürger:innen, Männer, Weiße, relativ Hochbezahlte, akademisch Gebildete (etc.) zu hinterfragen, dadurch sensibel für strukturelle Diskriminierungen zu werden und dagegen zu protestieren,
  • da zu widersprechen und in unbequeme Konflikte zu gehen, wo es einem wichtig erscheint,
  • eigene Bedürfnisse tiefergehend kennenzulernen und neue Umgangsweisen damit in einer Gesellschaft zu erkunden, die permanent neue vermeintliche Bedürfnisse schafft,
  • seinen „Feinden“ die Hand auszustrecken oder gar mit Warmherzigkeit zu beschenken,
  • mit alternativen Formen von Führung und Organisationsstrukturen zu experimentieren (mehr dazu im Blog-Beitrag zu Holokratie),
  • am eigenen Arbeits-, Schul-, Ausbildungs- Uni-, Lebensplatz oder auch in Gewerkschaften, Vereinen, Verbänden, Parteien (etc.) eine kleinere oder größere „Meuterei“ gegenüber verkrusteten Strukturen und Regelwerken zu starten, die u. a. kreatives Mitbestimmen, regeneratives, glechberechtigtes, solidarisches Arbeiten oder ökologisches Verbinden nach Innen wie nach Außen systematisch verhindern oder gar untergraben,   
  • es in einer Konkurrenzgesellschaft zu schaffen, sich selber als Mensch gern zu haben, mit dem Grundgefühl richtig auf dieser Erde zu sein, und auch Mitmenschen damit „anzustecken“,
  • die weitestgehend verdrängten Stimmen und Perspektiven des Globalen Südens oder bspw. auch die flüchtenden Schreie vom Mittelmeer in unserer schalldichten Welt des Globalen Nordens hörbar zu machen,
  • für ein Gefühl von Zeitwohlstand in einer chronisch zeitknappen Gesellschaft (gemeinsam) zu sorgen, um einfach nur sein zu können, sich körperlich zu verausgaben oder irgendwelchen Leidenschaften nachzugehen,
  • sich zusammen mit anderen in Pionierorganisationen zu engagieren, bspw. indem man sich in einer Solidarischen Landwirtschaft die Hände beim Gärtnern schmutzig macht und dabei wieder mit dem Leben im Boden und um einen herum in Verbindung zu kommen,
  • generell an dem Aufbau enkeltauglicher, regionaler Grundversorgung  mitzuwirken und dabei die ökonomischen, kulturellen und sprachlichen Türen für gesellschaftlich Diskriminierte versuchen so weit möglich zu öffnen,
  • an der Vernetzung diverser Bewegungen für sozialökologische Transformationen und Akteure mit teils ähnlichen Anliegen (z. B. Gewerkschaften, Verbände, Unternehmen) mitzuwirken, um stärker auf Politik einzuwirken und dabei wiederkehrend eigene „normale“ Herangehensweisen zu hinterfragen sowie andere auszuprobieren,
  • regenerativ für das eigene Wohlergehen in der sinnpiratischen Fülle an Handlungsmöglichkeiten zu sorgen,
  • das Engagieren anderer und von sich gemeinsam immer wieder als kleinen, aber unheimlich wichtigen Teil dieser Transformationen zu feiern, ohne sich dabei zu überhöhen und auf andere herablassend zu schauen, 
  • sich an Demonstrationen oder vielleicht doch an gewaltfreiem zivilen Ungehorsam zu beteiligen, um die Gesellschaft und deren Eliten herauszufordern
  • oder auch einfach mal im Bett liegen zu bleiben und zu sinnlosen!

Das kann die Sinnpiraterie für mich bedeuten. Aber was bedeutet es für Dich? Welche Bilder kommen in Dir hoch, wenn Du über die Sinnpiraterie nachdenkst?

Vor den wiederkehrenden Fragen des Sinnpiratens stehend, machen sich zwei sehr wesentliche Extreme immer wieder auf. Sie ziehen an uns und es ist daher nur allzu leicht in sie hineinzufallen. Nur machen aus meiner Sicht beide Extreme in diesen Umbruchszeiten krank: Einfach im Leben unpolitisch weiter zu segeln wie bisher macht früher oder später krank. Denn dadurch bleiben wir schutzlos Teil eines kranken und zerstörerischen gesellschaftlichen Schiffes, während die Ohnmacht, im Angesicht aufkommender Stürme auf hoher See, zusehends um sich greift. Aber ebenso das Bestreben alle Weltprobleme und Ver-Antwortung dafür auf sich zu laden und dagegen rastlos anzukämpfen, macht früher oder später krank.

Genauso, wie wir uns also aus Gründen der Gewohnheit, der (Un)Bequemlichkeit oder der mutlosen Selbstverzwergung der eigenen Wirkungskräfte unterfordern können, so können wir uns auch überfordern. Für das Finden einer regenerativen Balance gibt es kein Patentrezept und dies ist vor allem je nach Person und Kontext unterschiedlich! Aber eines ist sicher: Wir können uns der offenkundig aufkommenden monströsen Ohnmacht der stürmischen See zunehmend hingeben oder aber wir als Sinnpirat:innen beginnen uns durch mutiges, gestaltendes Handeln in unbekannte Weiten des Meeres vorzuwagen. Gemeinsam fragend-orientierend. Lebensbejahend. Seemeile um Seemeile… denn wie der römische Philosoph Seneca schon gesagt hat: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht. Sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ 

Dabei werden wir an manchen Stellen von uns selber überrascht, was auf einmal doch alles auf stürmischer See möglich ist und gelingen kann: Die Meeresströmungen und Wellen besser zu lesen, die Segel danach neu auszurichten und den Rückenwind zu nutzen. Wir merken auf einmal, wir können gestalten. Da geht viel mehr, als wir denken. Ganz viel sinnpiratische Musik.

Zugleich wird uns auch als Sinnpirat:innen die See immer wieder unsere Grenzen aufzeigen. Dabei werden wir scheitern und wieder scheitern. Zum Beispiel, wenn sich die „Normalität“ des immer höher, schneller, weiter dann doch wieder in unser Sinnpiraten hineinschleicht und uns zu überfordern droht. Aber das ist ok. Ich, du, wir alle sind nicht perfekt – sollten wir es überhaupt sein?
Ich denke nicht. Vielmehr geht es aus meiner Sicht darum zu versuchen, die eigenen Widersprüche als ein Teil von uns wohlwollend anzuerkennen und an ihnen spielerisch zu arbeiten… und auch das wird uns vermutlich nicht immer gelingen. Manchmal wird vielleicht sogar das Gegenteil der Fall sein. Aber auch das ist ok!

Im Zuge dessen werden wir mit unseren eigenen Grenzen, mit denen des gesellschaftliches Schiffes wie auch mit denen der hohen See zusehends vertrauter – Erfahrungen, die wir aus jeder Veränderung kennen, die aber im existenziell aufgeladenen Kontext sozialökologischer Transformationen nochmal eine andere Intensität und Bedeutung annehmen.

Ein wichtiger Clue ist dabei für mich, den eigenen Lebenssinn nicht mit dem einzelnen, sogkräftigen Bereich „Transformation“ (oder bspw. auch „Arbeit“) zu überidentifizieren, damit in Eins zu setzen und dabei unweigerlich Gefahr zu laufen krank zu werden. Die viel lebbarere und lebenswertere Lebenskunst erscheint mir weitere Lebenssinnbereiche mit Leben zu füllen, ohne dabei „Transformation“ als einen sehr wesentlichen Bereich zu vernachlässigen.

Auch wenn wir dabei immer wieder durch starke Schiffsschwankungen umfallen werden, lernen wir als Sinnpirat:innen zunehmend in ein regeneratives, schwankend-stabilisierendes Balancieren zu kommen: Zwischen Überidentifizieren und Unteridentifizieren. Zwischen Überfordern und Unterfordern. Gemeinsam fragend-orientierend. Lebensbejahend. Seemeile um Seemeile…

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