Sinnpiratinnen: Unsere Geschichten

 

Verfasst von unserem lieben Robin:

In meiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer eines Fair-Trade-Unternehmens in Großbritannien hatte ich einige unglaublich harte Monate, als das Unternehmen vor der Schließung stand.  Unsere einzige Chance bestand darin, schnell und schmerzhaft zu verkleinern und zu versuchen, sich an einen veränderten Markt anzupassen.  

Die schlimmste Erfahrung in meinem Berufsleben war zweifellos, dass ich allen 78 Mitarbeiter:innen mitteilen musste, dass sie möglicherweise entlassen werden, während wir die Dinge in Ordnung bringen.  Es ist nicht leicht, von den Leuten zu verlangen, dass sie einem vertrauen und dabei helfen, ein Unternehmen zu sanieren, wenn man ihnen mit Entlassung droht.  Es ist schwer, sich selbst zu vertrauen.

Natürlich beschlossen einige Kolleg:innen sofort nach Bekanntwerden der Nachricht, das Unternehmen zu verlassen. Sie brauchten die Gewissheit, Arbeit zu haben, um ihre Rechnungen bezahlen zu können, und ich war erleichtert zu erfahren, dass sie alle eine gute Beschäftigung gefunden haben. Einige entschieden sich zu bleiben, um zu sehen, was passieren würde. Ich war dankbar, dass Schlüsselpositionen erhalten werden konnten, während ich mich nächtelang in meinem Bett hin und her wälzte und versuchte, mir etwas auszudenken, das stark und vernünftig genug sein würde, um sowohl die Banken als auch meinen Vorstand davon zu überzeugen, dass wir die Dinge wirklich umkehren könnten.

Und ein paar Mitarbeiter:innen gingen mit mir in den Bunker und begannen, ihre Kreativität im Sinne des Unternehmens zu nutzen. Ein Kernteam von fünf Leuten, von denen keine:r in der alten Struktur besonders hochrangig war, überzeugte mich davon, dass wir es schaffen konnten, und so machten wir uns daran, neu anzufangen und die Art von Unternehmen zu sein, die einen Unterschied macht.

Am Ende haben wir einen äußerst schmerzhaften Verkleinerungsprozess durchlaufen und neu angefangen. Bei unserem ersten Treffen waren wir 12 Personen.

Aus dem Chaos entstand aber eine Chance für Veränderung. 

Mit der Angst und der großen Verantwortung im Hinterkopf, ein Unternehmen zu schließen und ein neues zu gründen, hatte ich mich den üblichen Managementbüchern zugewandt, in denen es darum geht, wie man eine gute Führungskraft wird.  Ich bin sicher, ihr kennen diese Art von Büchern.  Sie tragen Titel wie „Die 7 Supergeheimnisse, um brillant zu sein“, „Die 5 Dinge, die alle herausragenden Führungskräfte tun“ oder „Werden Sie ein besserer Manager in nur 10 Minuten pro Tag“.  Natürlich sind diese Bücher allesamt Unsinn, der gerade genug Weisheiten enthält, um sie glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Es gab jedoch ein Buch, das ich gelesen habe und das mir einen dieser „Aha!“-Momente bescherte.  Es handelte von Piraten und hieß schlicht und einfach „Be More Pirate“.

Was mich berührte, war die Vorstellung, dass vor über 300 Jahren kleine Gemeinschaften von Menschen – oft die am wenigsten erwünschten und im Allgemeinen nicht aus besonders privilegierten Verhältnissen stammend – eine unglaublich große Entscheidung getroffen haben. Sie wollten ihr Leben nach den von ihnen selbst geschaffenen Regeln leben. Keine abgehobenen Kapitäne oder Offiziere mehr, keine Bestrafungen und keine Knechtschaft.  Sie entwickelten außerordentlich fortschrittliche Vorstellungen darüber, wie sie ihre Angelegenheiten regeln wollten: eine Person, eine Stimme, Gleichberechtigung von Geschlecht, Rasse und sexueller Orientierung, eine einfache Sozialleistungsstruktur, gerechte Zahlungen, ein Zweikammersystem.  Während all dies heute selbstverständlich erscheint, war es das damals nicht. Diese Gemeinschaften haben sich das einfach so ausgedacht, weil es ihnen wichtig und richtig erschien. Sie haben diese Regeln als Piraten-Chartas kodifiziert. Ihre Entscheidung, ihre Bedürfnisse.

Sie blühten auf. Viele Offiziere der königlichen Marine hatten Angst, dass ihre Matrosen meutern und zu den Piraten überlaufen würden, weil das, was sie boten zu schön war, um wahr zu sein.  Und in vielerlei Hinsicht war es das auch. Wenn man im 18. Jahrhundert einer Minderheit oder benachteiligten Gruppe angehörte (Sklave, Frau, LGBTQA+), war die Zugehörigkeit zu einer Piratengemeinschaft wahrscheinlich der sicherste Ort, an dem man sein konnte.  Über einen Zeitraum von 20 Jahren blühten sie auf und sorgten für Furore.  Sie jagten der Royal Navy eine Heidenangst ein.

Eine so offensichtliche Herausforderung für das monarchische, hierarchische, kolonialistische und männliche Paradigma konnte natürlich nicht hingenommen werden. Bald begann die britische Marine einen Vernichtungskrieg gegen sie zu führen. Viele wurden getötet. Während sich einige in ihr altes Leben zurückzogen, wurden ihre Schiffe gefangen oder versenkt. Um sicherzustellen, dass ihre gefährlichen und radikalen Ideen ausgerottet sind, wurden die physischen Angriffe schließlich zu einem PR-Krieg.  Was wissen wir heute über Piraten?  Blutrünstige, herzlose, unmoralische Säufer:innen, allesamt Psychopath:innenen.  Das ist die Geschichte, die man uns erzählt hat.  Sie ist genauso unsinnig wie die oben erwähnten Managementbücher.

 

….. Und doch.  Heute leben wir in Demokratien, in denen Frauen wählen können, in denen die LGBTQA+-Gemeinschaft eine Stimme hat, in denen die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt ist, in denen die Regierungssysteme über Zweikammerstrukturen verfügen, in denen die Sozialfürsorge Teil unseres Erbes ist und in denen eine gerechte Entlohnung, wenn nicht Realität, so doch zumindest ein Thema ist. Wer hat am Ende wirklich gewonnen?

Gute Ideen erscheinen anfangs oft radikal, aber wenn sie aus realen Bedürfnissen heraus entstehen, haben sie Bestand.

In meinem Unternehmen haben wir beschlossen, unsere eigenen Regeln aufzustellen, und wir haben beschlossen, uns nicht mehr wie bisher in einer traditionellen Hierarchie zu organisieren, sondern in Selbstverwaltung.  Wir beschlossen, die 5-Jahres-Strategiepläne zu vergessen und stattdessen wie Piraten zu leben und die Chancen zu ergreifen, die am wahrscheinlichsten Früchte zu tragen schienen.  Wir wurden beweglicher als jede andere Organisation, in der ich je gearbeitet habe.  Junge Leute, insbesondere junge Frauen, nahmen sich die Freiheit, das zu tun, was für sie am besten war, und zwar in einem Rahmen, der sicherstellte, dass niemand das Unternehmen in Gefahr brachte.  Ich verstand nicht immer, was geschah oder warum bestimmte Entscheidungen getroffen wurden, aber sie schienen zu funktionieren, und wir gewannen an Zugkraft und Anhängern.  Wir begannen mit verschiedenen und neuen Kundengruppen zu sprechen. Wir wurden sogar ziemlich cool, was, wenn mich jemand von euch kennen würde, nicht das erste Adjektiv ist, mit dem man mich beschreibt. Und schon gar nicht ein Wort, das meine Kinder für mich nutzen würden.

Ein Teil des Geheimnisses unseres Erfolges lag natürlich in meiner Entscheidung, weder eine brillante Führungskraft noch ein großartiger Manager zu sein.  Wem sollte ich etwas vormachen?  Ich bin weder das eine noch das andere und werde es auch nie sein.  Zu sagen: „Ich weiß es nicht“ ist wahrscheinlich das zweitbeste Managementinstrument, das mir je begegnet ist.

Das beste Führungsinstrument?  Das Vertrauen darauf, dass meine Kolleg:innen in einer sicheren Umgebung ihre eigenen Herausforderungen lösen und Chancen ergreifen können. Ich will ermächtigen und ermutigen.

Lang leben die (Sinn-)Pirat:innen.