„Kein:e Manager:in? Kein CEO? Das ist doch völlig verrückt! Wie soll man denn da Entscheidungen treffen? Wer weiß, was zu tun ist? Wie sieht es mit einer Strategie für das gesamte Unternehmen aus? Wer kontrolliert, ob du gute Arbeit leistest? Anarchie! Es muss Chaos herrschen! Unmöglich!“
Das ist die übliche Antwort, die ich bekomme, wenn ich erzähle, dass ich ein Unternehmen nach holakraktischen Prinzipien geführt habe, was bedeutet, dass wir ohne Manager:in und ohne Hierarchie gearbeitet haben.
ERLERNTE REAKTIONEN HINTERFRAGEN
Diese Reaktion sagt mir viel darüber, wie wir konditioniert sind zu denken.
Wir sind uns nicht immer darüber im Klaren, wie tief unsere Erziehung und Bildung in unsere Denkweise eingedrungen sind, und wir neigen natürlich dazu, uns als rationale und frei denkende Erwachsene zu betrachten, die in der Lage sind, ihre eigenen Entscheidungen auf der Grundlage ihres guten Urteilsvermögens und ihrer vernünftigen Erfahrung zu treffen.
In Wirklichkeit ist die Art und Weise, wie wir auf Dinge reagieren, oft nichts anderes als eine Ansammlung erlernter Reflexe und sozialer Konditionierung. Wir neigen dazu, nicht die richtigen Fragen zu stellen, weil wir uns nicht einmal ansatzweise vorstellen können, was die richtigen Fragen sind.
ALTE NEUE BLICKWINKEL
Als die ersten Europäer in den Ländern, die sie begehrten, auf indigene Gruppen trafen, waren sie oft völlig ratlos, wie diese ihre Gesellschaften führten. Dabei handelte es sich übrigens nicht um primitive Stämme, sondern um hoch entwickelte, kulturell reiche, sprachlich verfeinerte und weit gereiste Gemeinschaften. Französische Jesuiten, die ausgesandt wurden, um die Stämme im heutigen Quebec und im Gebiet der großen Seen zu beobachten, waren völlig verwirrt von dem, was sie vorfanden. Lebendige und blühende Gemeinschaften, die keine:n Führer:in, kein Geld und keine Eigentumsrechte hatten. Wie konnten solche Gemeinschaften existieren? Anarchie! Chaos! Unmöglich!
Auch die indigenen Gemeinschaften, auf die sie trafen, dachten ähnlich über die Franzosen. Wie konnten Gemeinschaften mit Anführer:innen, Geld und Eigentumsrechten überhaupt existieren? Geld war, wie einer von ihnen wortgewandt beschrieb, „… die Quelle allen Übels; der Fluch der Seelen und das Schlachthaus der Lebenden.“ Anarchie! Chaos! Unmöglich!
ALLTAG IN DEN UNTERNEHMEN
Fast alle von uns sind in dem Glauben aufgewachsen, dass ein Arbeitsplatz eine Art von Hierarchie beinhaltet. Diese Hierarchien besitzen, je nach Position im Unternehmen, idiotische Chef:innen und unterdrückte Arbeiter:innen oder hart arbeitende Manager:innen, die faule, nichtsnutzige Faulpelze decken. Ob es einem gefällt oder nicht, so funktionieren die Dinge nun einmal, und es gibt keine andere Möglichkeit.
Das Arbeitsleben ist ein langer Prozess von Kompromissen, dummen Entscheidungen und inkohärenten Strategien von oben, während man von ChefInnen und Kolleg:innen terrorisiert wird, die irgendwie besser wissen, wie man das Spiel spielt als man selbst. Kein Wunder, dass sich die meisten Menschen nach einem anderen Job umsehen, sich im Anfangsstadium eines Burnouts befinden und sich wünschen, woanders oder auf eigene Faust zu arbeiten.
MUTIG NEUE WEGE GEHEN
In der Tat gibt es Tausende von Organisationen, die einen anderen Weg gewählt haben. Die meisten von ihnen haben ihre eigenen Techniken und Verfahren entwickelt, um auf Manager:innen und Hierarchien zu verzichten, und obwohl der Weg dorthin oft mit viel Herzschmerz verbunden ist, beschließen die Menschen, sobald sie den Durchbruch geschafft haben, nie wieder zur alten Arbeitsweise zurückzukehren.
Im Laufe der Jahre wurden viele dieser sehr durchdachten Techniken in etwas gebündelt, das sich wie ein Betriebssystem für das Selbstmanagement anfühlt. Und das ist alles, was Holacracy ist – eine Art Excel für das Selbstmanagement; eine Reihe von Regeln, die Ihnen helfen, all die gleichen Probleme zu bewältigen, die auch normale Unternehmen bewältigen, aber ohne die Notwendigkeit eines großen Chefs oder endloser Sitzungen, in denen nichts wirklich entschieden wird, aber jede:r viel redet.
Das Wort „Holacracy“ klingt ein wenig beängstigend – ist es aber nicht. Es bedeutet einfach, dass die kleinste Einheit regiert. Es klingt auch unglaublich neuzeitlich und anarchisch – ist es aber nicht. Es ist unglaublich strukturiert und formell, aber es hat einen Weg für Unternehmen gefunden, sich von innen heraus zu führen, nicht von oben.
BLICK IN DIE PRAXIS
Mir gefiel diese Idee so gut, dass ich sie in einem Unternehmen, das ich im Vereinigten Königreich leitete, umsetzte. Es war schwer, die Regeln zu lernen; die ersten Sitzungen waren in der Tat chaotisch; ich machte viele Fehler, aber nach und nach lernten wir die Regeln, und wie bei jedem Spiel wurden wir mit der Zeit ziemlich gut darin. Nach einem Jahr waren wir flügge. Entscheidungen wurden von den Leuten getroffen, die sie treffen mussten. Keine:r hatte so viel Macht, dass er dem Unternehmen schaden konnte. Alle Entscheidungen wurden bekannt gegeben, einige wurden in Frage gestellt, oft wurden sie geändert, aber Zustimmung und Konsens waren Schimpfwörter. Der:die für eine Aufgabe verantwortliche Person („die kleinste Einheit“) war, entschied, was zu tun war und wann.
Junge Leute begriffen das viel schneller als ältere Kolleg:innen. Ich bildete einen jungen Mann bei seinem Eintritt in das Unternehmen aus, und innerhalb einer Woche hatte er das Selbstvertrauen, seine eigene Arbeit so zu priorisieren, dass er, als ich ihn um Hilfe bei etwas bat, mir (dem ehemaligen Geschäftsführer) mitteilen konnte, dass er es zwar könne, aber die Arbeit, die ich zu erledigen hatte, würde warten müssen, da er sich zuerst um etwas viel Wichtigeres kümmern müsse. Stellen Sie sich das in einem normalen Unternehmen vor! Als er mir später erzählte, was er zuerst zu erledigen hatte, fand ich übrigens, dass er genau die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Holacracy setzt voraus, dass jede Rolle selbst entscheidet, wie sie diese am besten ausfüllt. Hindernisse werden in erstaunlich effizienten Sitzungen beseitigt, die nie länger als 20 Minuten pro Woche dauerten und so viel Zeit und Energie für die eigentliche Arbeit freisetzen.
Als COVID zuschlug, fühlte ich mich, wie wahrscheinlich jede:r CEO in diesem Land, völlig verloren. Die Hälfte unseres Umsatzes ging normalerweise an Geschäfte, die geschlossen werden mussten. Da aber niemand auf mich angewiesen war, um Entscheidungen zu treffen (die, wie ich vermute, falsch und nur halb durchdacht gewesen wären), und da jede:r selbst entscheiden musste, wie er:sie seine Arbeit am besten erledigen konnte, wurden die Entscheidungen schnell und effizient getroffen. Hunderte von kleinen, aber wichtigen Änderungen wurden in einer Reihe von Sitzungen im Laufe dieser ersten zwei Wochen umgesetzt. Das Ergebnis war ein völlig neues Organigramm, neue Rollen, Änderungen an alten Rollen, einige Rollen waren abgeschafft worden, und jede:r schien genau zu wissen, was er zu tun hatte.
Es gab keinen Streit und keine Konflikte, und doch war das gesamte Unternehmen von innen heraus neu gestaltet und umstrukturiert worden. Holacracy wird oft als „agiles Lernen“ beschrieben, und ich denke, das ist eine gute Beschreibung. Wenn man den Kolleg:innen die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und ein Umfeld schafft, in dem sie dies gefahrlos tun können, dann ist das eine wirkungsvolle Arbeitsmethode.
Wenn ich mir jetzt „normale“ Unternehmen anschaue und sehe, wie sie arbeiten, ist meine erste Reaktion: „Niemals! Sie arbeiten mit Manager:innen? ChefInnen? Wie um alles in der Welt soll das funktionieren? Das muss unglaublich ineffizient sein? Eure Meetings dauern 3 Stunden? Warum eigentlich? Was um alles in der Welt macht ihr da, um so viel Zeit zu verschwenden? „Chaos! Anarchie! Unmöglich!“
ROBINS WUNSCH
Was wir für normal halten, ist nicht immer richtig. Manchmal kann ein Wechsel der Perspektive helfen. Ich liebe es, kleinen Teams beizubringen, wie sie anders arbeiten können.
Agiles Lernen kann überall und in jeder Organisation durchgeführt werden. Selbst die Übernahme der grundlegendsten Techniken von Holacracy kann befähigend und effizient sein, und es besteht keine Notwendigkeit, in die Tiefe zu gehen.
Agiles Lernen ist organisch, eine Reise der ständigen Verbesserung und ständigen Verfeinerung, und ich liebe es, Einzelpersonen auf dieser Reise zu beobachten und zu sehen, wie sie sich im Laufe einiger weniger Trainingseinheiten verändern. Wenn ich daran denke, wie die meisten Unternehmen organisiert sind und geführt werden, sehe ich überall Verbesserungspotenzial, aber es erfordert Mut und manchmal einen völligen Perspektivenwechsel, um den ersten Schritt zu tun.
Unser Angebot für euch:
1. Impulsvortrag zu Holakratie (nach kurzer Absprache, welchen Fokus ihr euch wünscht)
2. Keimzelle: Start einer Testphase mit einem kleinen motivierten Team